Die Ukraine streitet ihre Verantwortung für die Explosion in Polen trotzig ab - das gibt Einblick in tiefsitzende Ängste Obschon die westlichen Partner eine vom Kurs abgekommene ukrainische Abfangrakete für den Tod von zwei Menschen verantwortlich machen, hält Präsident Selenski an Russland als Täter fest. Kiew glaubt, sich keine Schwäche leisten zu dürfen.

Ivo Mijnssen, Lwiw
17.11.2022, 15.04 Uhr

Leichte Irritation unter engen Verbündeten: Präsident Wolodimir Selenski in einem Telefongespräch mit seinem Amtskollegen Joe Biden.
Ukrainian Presidential Press / Reuters

Der Einschlag einer Rakete oder von Teilen davon im polnischen Grenzdorf Przewodow hat am Dienstag das Eskalationspotenzial des Ukraine-Kriegs aufgezeigt: Kurzzeitig war die These eines russischen Angriffs in aller Munde, bevor sich erhärtete, dass es wohl eine ukrainische Abfangrakete war, die versehentlich von ihrem Kurs abkam und zwei Menschen in den Tod riss. Die westlichen Hauptstädte atmeten auf, da die Nato nicht noch tiefer in den Konflikt hineingezogen wird.

Nur Kiew hielt stur am russischen Ursprung des Geschosses fest. "Ich habe keine Zweifel daran, dass das nicht unsere Rakete war", sagte Präsident Wolodimir Selenski am Mittwoch nach einem Treffen mit der Armeeführung. "Dies widerspricht den Beweisen", kritisierte ihn daraufhin sein amerikanischer Amtskollege und enger Verbündeter Joe Biden ungewöhnlich klar. Zugleich betonten westliche Führungsfiguren von Biden über Jens Stoltenberg bis zu Giorgia Meloni Kiews Verteidigungsrecht gegenüber russischem Beschuss und nannten Moskau als Hauptverantwortlichen.

Wenig Raum für Grautöne

Doch in Kiew ist die Irritation nicht zu überhören. Sie hat wohl damit zu tun, dass die Ukraine den zweiten Tag in Folge einen russischen Raketenterror gegenüber kritischer Infrastruktur erlebt, der neu auch die Gasversorgung ins Visier nimmt. Man hätte lieber mehr Entschlossenheit bei der Lieferung von Abwehrsystemen gegen diese Bedrohung, statt dass man auf dem Unfall in Polen herumreite, so der Tenor.

Hinter der ukrainischen Trotzreaktion stecken aber auch tiefere Gründe. So hat die Regierung kurz vor einem Winter voller Entbehrungen für die Bevölkerung kein Interesse an einer Diskussion über mögliche "Kollateralschäden" ihrer Flugabwehr. Dass abgeschossene russische Raketenteile immer wieder auf Wohnblöcken landen, ist in den betroffenen Städten ein offenes Geheimnis. Doch in der Öffentlichkeit bleibt wenig Platz für solche Ambivalenzen angesichts der Notwendigkeit, sich gegen einen brutalen Aggressor zu verteidigen.

Dazu kommt, dass die Angst vor dem Verlust der ausländischen Unterstützung und einem Verrat der Partner das Land tief prägt. Sie hängt mit historischen Erfahrungen zusammen, etwa in den Weltkriegen, als die ukrainische Unabhängigkeit ein geopolitischer Spielball übermächtiger Nachbarn war.

Frischer ist das Trauma der unter grossem europäischem Druck unterzeichneten Minsker Abkommen von 2015, das auch die kompromisslose heutige Haltung in Territorialfragen erklärt. Westliche Äusserungen über die Wünschbarkeit von Friedensverhandlungen auf "realistischer" Basis mit Moskau, gerade nach der Befreiung Chersons, beobachtet man in Kiew mit Argwohn.

Immunisierung gegen Kritik

Angesichts dessen, dass Russland jegliche Spannung im ukrainisch-amerikanisch-europäischen Bündnis sofort als möglichen Bruch darstellt, reagiert Kiew noch einmal empfindlicher. Um sich gegen die feindliche Propaganda zu immunisieren und Unterstützung zu sichern, glauben sich die Ukrainer gleichzeitig als demokratische Musterschüler und unüberwindlicher militärischer Abwehrwall präsentieren zu müssen. Dass dieser fast übermenschliche Anspruch zuweilen mit der Realität kollidiert, zeigt sich nicht erst beim Schwarzpeterspiel um die Explosion in Polen.

Im Gegensatz zu Moskau hat es Kiew allerdings nicht verlernt, aus Fehlern zu lernen. So sprach Selenski am Donnerstag nicht mehr kategorisch von einer russischen Rakete, die in Przewodow eingeschlagen sei. Er forderte nur noch eine Beteiligung seines Landes an der Untersuchung - an der Seite der ausländischen Partner, die wohl zustimmen werden. Die Angst, dass diese über ihren Kopf hinweg etwas entscheiden könnten, ist eine weitere Urangst der Ukrainer. Eine Beteiligung dürfte hingegen allen Seiten ermöglichen, das Gesicht zu wahren.


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